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Bericht eines Winterbildes  
                                                                                    
Darf ich mich vorstellen: Mein Name ist Winter am Untersee und ich kam 1940 auf die Welt. Vorher war ich ein brauner Karton und lag auf einem einfachen Holztisch in einer niedrigen Stube in Berlingen im Kanton Thurgau. Dann kam ein Mann in Bauernkleidern und mit einem Schnauz. Er setzte sich auf die Bank am Tisch, nahm Ölfarben und begann mit ganz feinen Pinseln auf mir zu malen. Ich staunte, wie er alle Details so genau malen konnte und doch nie den Blick für das Ganze verlor. So wurde ich schliesslich zu einem Winterblld an einem tiefblauen See. Zuletzt malte der Mann noch seinen Namen unten links auf die verschneite Landschaft: Adolf Dietrich.

Kurz nachher verkaufte er mich an einen Seminardirektor, der ihm auch schon Vogelpräparate zum Abmalen ausgeliehen hatte, und so kam ich ins Lehrerseminar nach Kreuzlingen. Das ist nicht so weit von meinem Geburtsort Berlingen, und es gefiel mir dort ganz gut. Später verschlug es mich nach Zürich zu Privatleuten. Dieses Dasein dauerte sehr lange und ich war gespannt und sehr aufgeregt, als mich die Leute plötzlich von der Wand nahmen und in ein grosses Haus brachten, wo ich schliesslich in einen Raum kam mit vielen Stühlen darin und vorne einem kleinen Pult. Eines Tages setzten sich Leute auf die Stühle. Ich zuckte zusammen, als ein Mann hinter dem Pult meinen Namen rief. Nun erhob ein älterer Herr auf einem der Stühle seine Hand, worauf der Mann auf drei zählte und dann mit einem kleinen Hammer aufs Pult klopfte. Damit begann für mich ein neues Leben.

Denn der ältere Herr packte mich sorgfältig ein und fuhr mit mir in einem schwarzem Auto davon. Auf der Fahrt sagte er mir, dass er mich sehr schön finde. Und ob ich wüsste, dass ich einen etwas jüngeren Bruder im Kunsthaus Zürich hätte, der mir sehr gleiche, aber viel berühmter sei, weil er immer wieder Ausflüge in andere Museen machen dürfe und auch in vielen Büchern abgebildet sei. Ich wusste es nicht, aber der Herr am Steuer sagte, ich käme nun in seine Stiftung und er werde dafür sorgen, dass ich auch so berühmt werde wie mein Bruder. Ich war ganz stolz, mir wurde warm ums Herz und ich musste aufpassen, dass das Eis auf dem blauen See nicht schmolz.

Am Ende der Reise brachte mich der Herr in ein Haus und in ein grosses Zimmer, welches er das „Dietrich-Zimmer“ nannte und hängte mich an eine Wand. Verständlich der Name, denn dort hingen lauter Geschwister von mir. Ich zählte bis 22, und es sah aus wie in einem Museum. So wird mir nie langweilig. Ich sehe zwei andere Winterbilder, viele Blumensträusse, und besonders drollig finde ich die Hasenmutter mit ihren sieben Kindern. Die zwei Waldohreulen machen mir fast etwas Angst, aber dann  tröstet mich wieder das kleine Mädchen im Wäschekorb mit den treuherzigen Augen.

Es kommen auch viele Menschen ins Zimmer, um uns anzuschauen. Zuerst sind sie meist etwas sprachlos wegen unserer Schönheit. Das freut mich natürlich. Auch Kunstkenner waren schon da, und von einigen sagte mir der Herr, das seien Museumsdirektoren gewesen. Und dann teilte er mir ganz leise mit, ich käme mit all meinen Geschwistern auch einmal in ein Museum. Da machte ich aber grosse Augen!  Ich freue mich und ich bin sehr, sehr stolz!